Schleusengraben, Schiffwasser
und Stuhlrohr
Am 8. September 1443, rund 20 Jahre nach der Eroberung Bergedorfs durch die beiden Hansestädte Hamburg und Lübeck, wurde „uppe deme kerkhove to Bergherdorpe“ beschlossen, den Bergedorfer Kamp zu durchstechen und einen Graben als direkte Verbindung zwischen dem Serrahn und der fünf Jahre zuvor vom Hauptstrom der Elbe abgedämmten Gamm-Elbe, die jetzt Dove-Elbe – also ‚Taube Elbe‘ – genannt wurde, herzustellen. Tatsächlich begonnen wurden die Arbeiten erst im Juli 1445. Wie lange sie dauerten, ist nicht überliefert - immerhin musste der Kanal auf einer Strecke von gut 2,5 km Länge in Handarbeit ausgegraben und der Aushub dann mit Kiepen und Karren abtransportiert und an den Seiten als Deiche angehäuft werden. Eine einfache Schleuse wurde gebaut, sie regelte die Wasserhöhe im Schleusengraben und den Übergang in die Dove-Elbe.
Es war viel Arbeit, aber das Ergebnis lohnte den Aufwand: Der Warentransport von und nach Bergedorf wurde damit erheblich erleichtert. Nur wenig unterhalb Bergedorfs mündete ein Arm eines kleinen Gewässers in den Schleusengraben. Hier, in unmittelbarer Nähe des Ortes, entwickelte sich bald ein kleiner Hafen, das sogenannte Schiffwasser.
1834 finden sich im Bergedorfer Adressbuch elf Schiffer und zwei Schiffszimmerleute, 1860 sind es 18 Schiffer und drei Schiffszimmerleute. Die Arbeitsstätte der Bergedorfer Schiffszimmerer befand sich direkt beim alten Hafen am Schiffwasser, auf der Holzhude. Als sich der Schiffbau in Bergedorf nicht mehr rentierte, wurde 1962 auf dem Platz das nach dem ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark (1852-1914), benannte Lichtwarkhaus gebaut. Heute steht hier das Körberhaus.
Schräg gegenüber, am hiesigen Ufer des Schleusengrabens, stehen bis heute drei Lagerhallen der Stuhlrohrfabrik Sieverts. Am 2. Juni 1882 nahmen Rudolf Sieverts, Samuel Lütcke und Louis Schmidt in drei recht kleinen Gebäuden am Anfang des Bergedorfer Kamps mit 30 Arbeitern die Produktion von Stuhlrohr auf. Viele Jahre hatten sie bei der weltweit ältesten Stuhlrohrfabrik von H.C. Meyer jr. in Hamburg und Harburg gearbeitet. Meyer verarbeitete seit 1817 in seinem Handwerksbetrieb Rattan, hauptsächlich zu Spazierstöcken. Durch die einsetzende Industrialisierung gewann Rattan für die entstehende Möbelindustrie rasch an Bedeutung. Meyer nahm die fabrikmäßige Verarbeitung als Erster auf. Durch verfeinerte Bearbeitungstechniken entstand eine differenzierte Produktpalette, immer neue Einsatzmöglichkeiten boten sich. Die Firma H.C. Meyer jr. wurde zur größten Stuhlrohrfabrik der Welt mit Niederlassungen in vielen Ländern der Erde. Sieverts, Lütcke und Schmidt hätten im Falle des Todes von Meyer die Firma als Geschäftsführer leiten sollen. Doch in einem frühen „Management-buy-out“ hatten sie gemeinsam ihre leitenden Stellungen verlassen und sich in Bergedorf selbständig gemacht. Bergedorf, seit 1868 an den Deutschen Zollverein angeschlossen und über Straßen, Schienen- und Wasserweg erreichbar, bot dazu gute Voraussetzungen. Die „Hamburg-Bergedorfer Stuhlrohrfabrik von Lütcke & Co.“ hatte, wie jede größere Fabrik, die Seehafengüter verarbeitete und sich außerhalb der Grenzen der Hafenstadt ansiedelte, ein Kontor in Hamburg. Von hier aus wurden Geschäftskontakte geknüpft und gepflegt, der Export organisiert, mit Reedereien verhandelt, neu ankommende Waren begutachtet und der Transport auf Fuhrwerken, Güterwaggons oder Schuten und Ewern zum Fabrikationsort in die Wege geleitet. Hergestellt wurden Halbfertigprodukte, wie Peddigrohr für die Korbflechterei und die auf Webstühlen gewobenen Matten aus Flechtrohr, mit denen Sitze und Lehnen von Stühlen bespannt waren.
Durch den frühen Tod seiner Kompagnons Schmidt, 1886, und Lütcke, 1890, war Sieverts mitten in der Expansionsphase des jungen Unternehmens alleiniger Inhaber geworden. Am 13.11.1890 ließ er die “Hamburg-Bergedorfer Stuhlrohrfabrik von Rud. Sieverts“ in das Firmenregister eintragen. In den folgenden Jahren entstanden die drei großen Lagerhallen mit den charakteristischen Tonnendächern. In ihnen wurde das Rohmaterial vor der Verarbeitung eingelagert. Die auf dem Wasserweg gelieferte Ware konnte direkt vor den Lagerhallen entladen werden. Noch 1960 wird dieser Bereich in den Bauakten als „Lösch- und Ladeplatz am Kampdeich“ bezeichnet und fünf Jahre später mit einer neuen Stahlspundwand und dem noch heute vorhandenen Kran versehen. Ende des 19. Jhdts. beschäftigte Sieverts über 400 Arbeiter in seiner Fabrikanlage.
Mit dem Zweiten Weltkrieg kam eine drastische Produktionsumstellung. Statt Stuhlrohr musste die Firma Granaten in ihren Hallen fertigen lassen. In den 1950er-Jahren verlagerte die Geschäftsführung dann große Teile der Produktion in die inzwischen unabhängig gewordenen Ursprungsländer des Rohstoffs. Große Teile der Fabrikanlagen mussten in dieser Zeit aufgrund des Baus der Bergedorfer Straße abgebrochen werden, neue Gebäude entstanden an der Stuhlrohrstraße. Nur noch wenige Arbeiter waren dort beschäftigt, die sich hauptsächlich um das Binden des Stuhlrohrs für den Versand kümmerten und noch bis zur Betriebsaufgabe 2003 den Vertrieb der Rattanmöbel organisierten, die in der neuen Fabrik auf Java hergestellt wurden.
Am 28. Mai 1890 kam eine zweite Stuhlrohrfabrik an den Schleusengraben, ganz in die Nähe von Sieverts Betrieb: H.W. Rümcker erwarb ein Stück Land auf dem Bergedorfer Kamp und wenig später noch angrenzendes Marschland, insgesamt über 17.000 qm. 1894 konnte die Produktion aufgenommen werden. Trotz der benachbarten Konkurrenz entwickelte sich auch diese Fabrik, seit dem 1. Oktober 1912 als „Hanseatische Stuhlrohrfabriken Rümcker & Ude A.G.“ geführt, zu einem großen Betrieb und bestand bis zum Ende der 1950er-Jahre. Über einen Teil des Geländes verläuft heute der Sander Damm.